23 Nov 2007

HALBE LAUTE

halbe-laute

Ute Weiss-Leder
24. November 2007 – 4. Januar 2008

Softball
Das Spielfeld besteht aus zwei Teilen, das sogenannte Fair Territory und das als Foul Territory bezeichnete. Das Fair Territory hat ein Infield und ein Outfield und wird in der Regel durch eine Umzäunung, dem sogenannten Outfieldzaun begrenzt..
Anders als der Name Softball vermuten läßt, ist der Ball keineswegs weich.

Flucht aus Byzanz
»Es gibt Orte, wo Geschichte unausweichlich ist, wie ein Autobahnunfall – Orte, wo die Geographie Geschichte provoziert. Ein solcher ist Istanbul alias Konstantinopel alias Byzanz. Eine wildgewordene Verkehrsampel, bei der alle drei Farben zugleich
aufflackern. Nicht Rot-Gelb-Grün, sondern Weiß-Gelb-Braun. Natürlich auch Blau: für das Wasser, für die Bosporus-Marmara-Dardanellen, die Europa von Asien trennen – aber ist dem auch so?«*
Wie in dieser kurzen Passage aus dem Essay »Flucht aus Byzanz« leitet Joseph Brodsky seine originellen Thesen mit scheinbarer Leichtigkeit in Fragen ab. Fragen, die Gedanken opulent anwachsen lassen. Brodsky versammelt politische, philosophische und religiöse Sehweisen in seiner Beschreibung der einzigartigen und doch exemplarischen
Entwicklung von Byzanz durch den historischen Auftritt Konstantins zu Konstantinopel alias Istanbul. Fast 1700 Jahre gehen wir durch seinen Text zurück, eine Geschichte der Superlative.
Er sucht den Dialog, auch wenn er manchmal arrogant, fast beleidigend erscheint. Er gibt uns zum Einstieg viel Wissen vor, vermischt es mit persönlichen Eindrücken und überlässt uns unseren widerstreitenden Emotionen. Wir sind versucht Sätzen wie: »Zivilisationen bewegen sich entlang der Längengrade, Nomaden (einschließlich unserer modernen Krieger…) entlang von Breitengraden.«* Sofort mit einer Antithese zu entgegnen.
Es ist jedoch beim lesen, wie im alltäglichen Leben, man braucht Zeit, Zeit zum Fragen, zum Hinhören, zum Antworten und zur Annäherung.
Er schreibt diesen Essay 1985, vor zwanzig Jahren also.
Macht man sich das Brodsky´sche Modell der großen philosophischen
und religiösen Pole – »der Osten und der Westen« – zu eigen, dann könnte man die gegenwärtigen Veränderungen Istanbuls als Annäherung an den »Westen« werten, oder doch umgekehrt?
Spannend liest sich dieser Essay unter dem Gesichtspunkt der Wiederholung, der Version oder der fortwährenden Erfahrung, »und um welche Epoche oder welches Jahrtausend es sich auch immer handelt, ist irrelevant.«* Und wie es die Welt gerade beobachten kann: »Gegen den Osten Krieg zu führen – oder sogar den Osten zu
befreien – und dort auch tatsächlich zu wohnen, das sind zwei ganz verschiedene Dinge.«*
Mit Unterstützung von Schülern der 11. Klasse der Ernst-Abbe -Oberschule in Berlin-Neukölln startete ich den Versuch eines Raumklangs zwischen »Ost« und »West«. Sie, die aus unterschiedlichsten familiären Zusammenhängen kommen, Was nutzt Ihnen unserer multiethnischen Gesellschaft sind, lesen Fragmente aus »Flucht aus Byzanz«.
Zur Orientierung benötigen wir noch einen Kompass: »Zusammen mit« und »Passus, der Schritt«. Die Bewegung zwischen den Himmelsrichtungen übernimmt ein großes Pendel, bezeichnet einen Raum und ist in seiner Bewegung mit der vielstimmigen Beschreibung
der Zeit verknüpft.

(Fenster zum Hof) 24 Stunden für Herrn Beier
»Wohnen ist in einer Zeit der Arbeitsknappheit bei steigendem Überfluß an freier Zeit zur Hauptbeschäftigung geworden.«* Dies trifft auch auf Herrn Beier zu, den Nachbar von gegenüber. Dessen Tagesablauf hat die Künstlerin Ute Weiss Leder über einen
längeren Zeitraum . mit seinem gleichgültigen Einverständnis. durchs geöffnete Fenster hindurch von ihrer eigenen Wohnung in Berlin-Neukölln aus gefilmt. Herr Beier ist arbeitslos, verläßt das Haus fast nie und lebt in seinem Sessel: Er sieht hier nicht nur fern und empfängt seine Freunde, er ißt, trinkt und schläft sogar in ihm. Er ist
seßhaft im wörtlichen Sinne. War der Sessel als Thron ursprünglich dem Herrscher vorbehalten, ist er heute ein Sinnbild für den Feierabend. Für den arbeitslosen Stubenhocker wird er jedoch zum multifunktionalen Möbel . Cocooning in Extremform, diesmal nicht als Hightech-Trend, sondern als Zeichen sozialen Abstiegs. Ute Weiss
Leders Studie ist die Umkehrung von Hitchcocks Filmklassiker Fenster zum Hof: Nicht der Beobachter ist immobil, sondern der Beobachtete. Doch ist auch hier der Zuschauer, der durch den Guckkasten des Fensters in die Intimität des Nachbarn eindringt, peinlich berührt und nicht frei von Schuldgefühlen.
Isabell Schenk-Weininger

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Ausstellungsansicht, Ute Weiss-Leder, Halbe Laute,
Projektraum|Kunsthaus Erfurt, 2007

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